Meine Entscheidung, den Schuldienst zu verlassen, um Mensch zu bleiben
»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!«
Ich mochte diesen Spruch nicht. Unterstellte er mir doch, es wäre bereits vorgezeichnet, dass ich den selben Weg wie mein Vater einschlagen würde. Aber ich hatte so vielfältige Interessen – jedes für sich hätte einen Berufswunsch ergeben können.
Aber tatsächlich hatte ich da so eine Vision von einem Lehrer, der mit vielfältigen Kenntnissen und Erfahrungen Kinder beim Heranwachsen unterstützt und begleitet. Eventuell ließe sich hierbei auch kognitives, handwerkliches und künstlerisches Arbeiten einbringen, damit diese Dinge nicht zum Hobby degradiert werden. Ich hätte viele Wege einschlagen können – aber im Jahr 2005 begann ich überraschenderweise mein Lehramtstudium.
Die Wahl der Fächer passte allerdings nicht so sehr zu dieser Vision eines Mentors. Immerhin wollte ich der Mathematik durch die Biologie einen Gegenspieler zur Seite stellen. Nach einer Ernüchterung über die Studiumsinhalte im Fach Biologie, verlor ich ein wenig Vielfältigkeit aber Gewann mit dem zweiten Fach Informatik den nötigen Schwung, um das Studium erfolgreich abzuschließen.
War das nicht zum Scheitern verurteilt?
Schon seit Ende meiner Schulzeit hatte ich gewisse Vorstellungen über pädagogisches Arbeiten, über die Welt, die Wahrheit und den Sinn des Lebens. Natürlich. Vorstellungen, die eher reformpädagogisch, alternativ oder zumindest »anders« zu sein schienen, als der staatliche oder gesellschaftlich etablierte Weg.
Darunter war auch eine deutliche Ablehnung der Notengebung in der Schule. Ich hatte in meiner Schulzeit keine Noten bekommen, hatte sie auch nicht vermisst.
Für mich war es also bereits hier eine ungewöhnliche Entscheidung, den Weg einer staatlichen Lehrerausbildung einzuschlagen, dessen war ich mir bewusst. Ich hatte sogar Angst davor, meine ganz eigene Sicht und meinen Idealismus im Strudel von überstrapazierten pädagogischen Theorien und semiplausiblen didaktischen Modellen schlicht zu vergessen.
Meine Entscheidungen sind selten so strategisch: Aber ich wollte diese Ausbildung machen, weil ich auf diese Weise wohl einen besseren Start hätte, um dann doch, falls nötig, eine andere Art Lehrer werden zu können – aber eben staatlich anerkannt. Mit Siegel und Zertifikat.
Zehn Jahre lang war alles vorgezeichnet
Fünf Jahre Studium und anderthalb Jahre Referendariat. In dieser Zeit habe ich auch erstaunlicherweise nie wirklich über eine Alternative oder gar einen Ausstieg nachgedacht. Es kam einfach eines nach dem anderen.
Was habe ich in der Ausbildung gelernt?
1. Noten sind notwendig.
Ich habe zum Beispiel gelernt, dass eine Schule, vom Staate (der Gemeinschaft) finanziert,
selbstverständlich eine Erfolgskontrolle braucht, um ihr steuerfinanziertes
Dasein zu rechtfertigen. Der Erfolg der Schule definiert sich über die Leistung
der Schüler. Die Leistung der Schüler muss also messbar gemacht werden,
damit sie vergleichbar wird. Die Einheit: Notenpunkte.
2. Motivieren ist alles.
Weiter lernte ich, dass meine Aufgabe als Lehrer zum großen Teil darin besteht,
für jedes Thema des Lehrplans lediglich eine derart »motivierende«
Einstiegsstunde zu performen, dass die Kinder
verstehen: Das ist ein wichtiges Thema, das man später mal braucht.
Da müssen die Schüler dem Lehrer dann schon vertrauen.
3. Professionalität.
Ich muss bereits vor Beginn der Stunde wissen, was das Ergebnis sein wird.
Ich muss meine Schüler nur noch elegant dort hin führen, so dass sie glauben,
sie seien selbst zu neuen Erkenntnissen gelangt. Die Schüler daran teilhaben
lassen, dass ich zum Beispiel von meinem großartigen Plan abweiche, weil ich
spontan die pädagogische Notwendigkeit dazu sehe: geht gar nicht. Ich muss
das immer im Griff haben, nach außen hin aalglatt. Unsicherheit: No-Go!
Meine inneren Prozesse muss ich während dem Unterricht für mich behalten.
Subjektivität muss aus dem Leistungssystem herausgehalten werden.
4. Lehren und Lernen als Wissenschaft.
Ich habe so manch eine Theorie gelernt, Ausführungen über wissenschaftiche Erkenntnise
gehört und erfahren, wie wichtig es ist, sein Handeln an wissenschaftlich
belegbaren Fakten zu orientieren.
Ich habe der Sache eine Chance gegeben
Nach der Ausbildung war auch eine nachfolgende erste Anstellung als Lehrer im allseits begehrten Beamtenverhältnis folgerichtig und geradezu unausweichlich attraktiv. Die Stelle war auf drei Jahre befristet. So gab es erstmals einen natürlichen, möglichen Exit-Point. Falls ich den brauchen sollte.
Diese drei Jahre Gymnasiallehrer wollte ich dann allerdings schon durchziehen. Auch wenn es ab dem zweiten Jahr zwischenzeitlich mal den Gedanken gab, einfach mitten im Schuljahr den Hut zu nehmen... Später wollte ich mir aber nicht vorwerfen müssen, ich hätte bei der ersten Schwierigkeit aufgegeben. Ich wollte zu Ende bringen, was ich angefangen hatte – nicht zuletzt auch wegen meiner Schüler, die mir wirklich ans Herz gewachsen waren.
So langsam kam aber das, was mein Bauch schon immer vermutete, in meinem Kopf an:
1. Noten verdecken die eigentliche Leistung.
Es ist geradezu pervers, wie die Arbeit eines ganzen Schuljahres am Ende auf
eine Ziffer zusammengepresst wird. Selbst mühevoll erarbeitete Nachkommastellen:
weg! Als wäre nichts entstanden, hätte sich nichts entwickelt, wären da keine
Hochs und Tiefs, durch die man gegangen ist. Eine Zahl. Und jeder Mittelwert
tut weh. Um das Klassenziel zu erreichen verschwindet jedes Unverständnis,
jedes Ringen um Verständnis und jede Erkenntnis hinter dieser Zahl.
Ein leeres Jahr. Damit werden alle Inhalte dem Paradigma der Messbarkeit,
der Abprüfbarkeit derart unterworfen, dass die Bildung auf der Strecke bleibt.
Die Bildung bleibt auf der Strecke! Was bleibt, ist der Selektionsapparat.
2. Die Motivation ist nicht echt.
Schüler lernen in klassischen Schulen immer auf Vorrat. Sie lernen etwas nicht
aus Notwendigkeit, sondern weil jemand sagt, sie würden es
irgendwann brauchen.
Warum sollte mir ein Schüler da vertrauen?
Nur weil ich der Lehrer bin? Das ist ein falsches, erzwungenes und angelerntes
Vertrauen, kein verdientes. So gerne wäre ich mit den Schülern zusammen mal
eine echte Aufgabe angegangen, eine Aufgabe, die zur Notwendigkeit führt,
etwas zu lernen. Kein pseudo-problematisierender Unterricht nach dem Prinzip
»stell dir vor du hättest folgendes Problem – welche der bereits gelernten
Lösungsstrategien ist anzuwenden?«. Hypothetische Probleme sind für die meisten
Schüler, die lebensphasenbedingt mit sich selbst und der Welt genug andere
Probleme haben, nicht gerade motivierend.
3. Die Menschlichkeit fehlt.
Mit der vermeintlichen Objektivität geht auch ein Stück Menschlichkeit verloren.
Ein durchgeplanter, reibungsloser Ablauf, die »mundgerechte« Aufbereitung des
Lehrstoffs, die exakte Planung von Erkenntnissgewinn und die Angst vor
Sanktionen und Notengebung führen zu einem vollkommen verzerrten Bild der
Lehrer-Person: Ein allwissender Bewerter! Der Spruch »ein Lehrer hat vormittags
Recht und nachmittags frei« kommt nicht von Ungefähr. Das ist das tatsächliche
Bild, das durch die Show und die fehlende Ehrlichkeit im Schüler ganz
unweigerlich entstehen muss. Objektivität in der Schule ist in meinen
Augen eine Illusion, wenn nicht sogar eine Lüge. Von allen Seiten wird mir
immer wieder bestätigt: der »Erfolg« eines Schülers – z.B. in Mathematik – hängt
enorm von der Lehrer-Persönlichkeit ab. Den Menschen aus dem Bildungsprozess
heraus zu optimieren ist schlichtweg kontraproduktiv.
4. Wissenschaftliche Erkenntisse werden nicht umgesetzt.
Die neusten wissenschaftlichen Ergenntnisse aus Pädagogik und Gehirnforschung
werden im Schulsystem ignoriert. Seit längerem ist bekannt, dass die Schule
für die allermeisten Kinder morgens zu früh los geht. Das nimmt keiner ernst.
Es scheint zu diesem Bild eines disziplinierten Schülers zu gehören, dass
er früh morgens sich aus dem Bett quält und sofort leistungsfähig ist.
Auch dürften nicht nur Erfahrungswerte zeigen, dass der klassische Schulbetrieb
für Jugendliche während ihrer Pubertät eher kontraproduktiv ist. Und zwar nicht
weil die Kinder keinen Bock auf nichts haben, sondern, weil Ihr Gehirn eine Baustelle ist.
Und wie gut der Straßenverkehr auf einer Kreuzung in Mitten einer städtischen Großbaustelle funktioniert, muss man nicht weiter erläutern.
Schluss machen oder arrangieren?
Viele erfahrene Kollegen und Kolleginnen, mit denen ich sprach, meinten, wenn man sich erst einmal zurechtgefunden habe, könne man von einer großen Gestaltungsfreiheit im Lehrerberuf profitieren. Einige Kollegen haben auch die selben Fragen und ganz ähnliche Kritik. Die einen haben sich arrangiert und machen einfach mit, andere haben die Kraft und die Hoffnung, im System den Unterschied zu machen.
Ich aber hatte das Gefühl, immer ein Stück weit gegen meine tiefsten Überzeugungen ankämpfen zu müssen, wenn ich vor den Kinder stand und das alles ihnen gegenüber vertreten, gelegentlich sogar verteidigen musste.
Es führte schon oft zu großem Unheil, wenn Menschen lieber »mitgespielt« haben, um wenigstens selbst etwas vom Kuchen ab zu bekommen, anstatt sich mit einem echten, ehrlichen Standpunkt Schwierigkeiten zu machen.
Auf lange Sicht würde ich so nicht weiter machen können wenn es mir gut gehen soll. Emotional. Gesundheitlich. Mit gutem Gewissen.
Zudem halte ich es für meine Bürger-Pflicht, nein für eine Pflicht als Mensch, mich von Tätigkeiten zu distanzieren, die ich für nicht richtig halte, hinter denen ich nicht stehen kann – auch wenn dies für mich persönlich das Aufgeben einer »sicheren« finanziellen Grundlage bedeutet.
Was ist aus dem Apfel geworden?
Das Loslösen von diesem einen Beruf hat mir die Möglichkeit gegeben nun verschiedensten Dinge zu einem »Leben« – zu meinem Leben – zu kombinieren.
Ich kann weiterhin Lehrer sein und den Kindern und Jugendlichen helfen, mit dem System klar zu kommen. Ich kann programmieren, was mir schnelle Erfolge beschert. Ich kann drinnen und draußen handwerkeln und ich kann an lehrreichen Produkten und einer nachhaltigen Lebensweise arbeiten.
Lehrreiche Produkte und Angebote zum Thema »wilde Selbstversorgung« entwickle ich zusammen mit meiner Frau als Wilde Kultur.
Und wenn ich nun unter den Apfelbaum schaue, so liegt dort vielleicht eine Kirsche – zwar kein Kernobst mehr, dafür aber immer noch ein Rosengewächs.
Zum Weiterlesen:
Wie will ich Lehrer sein?
Ich unterrichte gerne. Aber bin ich, indem ich Nachhilfeunterricht in Mathematik geben, nicht mit daran beteiligt, das System, das ich so kritisiere, am Laufen zu halten? Auf Dauer kann das ja nicht die Lösung sein.